Kapitel 28: Wilhelmine Friederike Anna Elisabeth Marie Prinzessin von Oranien-Nassau und Wilhelm Adolph Maximilian Carl Fürst zu Wied
Das »einzige verbliebene Familienmitglied« und der »eingeholländischte« Deutsche
Die Niederlande, wie wir sie heute kennen, waren in ihren Anfängen eine Republik. Erst 1813/15 wurde das Land unter den Oraniern zu einem Königreich. Viel fehlte nicht, und im 20. Jahrhundert wäre aus ihm wieder eine Republik geworden – oder eine Monarchie unter einem angeheirateten deutschen Fürstengeschlecht: Sachsen-Weimar, Reuß oder Wied. Um 1900 ist das Oranier-Geschlecht stark dezimiert, und die Frage der Thronfolge treibt die Gemüter um. Nach dem Tod von Prinzessin Sophie im Jahr 1897 (Kapitel 27) leben noch zwei Oranier: die 17-jährige Wilhelmina (nächstes Kapitel) und ihre Großcousine Marie. Wilhelmina nennt Marie 1898 »das einzige verbliebene Familienmitglied meines Hauses«.
Diese Prinzessin (Wilhelmine Friederike Anna Elisabeth Marie, 1841–1910), jüngstes Kind von Friedrich Prinz von Oranien-Nassau (Kapitel 23), ist zwar keine Schönheit und zudem schwerhörig, aber stets guter Dinge und angenehm im Umgang. Auf dem Landgut »De Pauw« in Wassenaar genießt sie eine stark deutschgeprägte Erziehung: ihre Mutter ist eine preußische Prinzessin, im Alltag wird überwiegend Deutsch gesprochen, das Personal ist mehrheitlich deutsch, und regelmäßig hält sich die Familie in Berlin und auf Schloss Muskau auf. Es dauert, bis ein geeigneter Heiratskandidat gefunden ist, doch 1869 verlobt sich Marie schließlich mit dem deutschen Fürsten und Offizier Wilhelm zu Wied (1845–1907). Er ist liebenswert, vernünftig und beständig – einziger Wermutstropfen: ihm fehlt die königliche Abstammung. Da Marie ihre Ansprüche auf den niederländischen Thron wahren will, bittet sie, wie in der Verfassung vorgesehen, das Parlament um Zustimmung zu ihrer Eheschließung, die sie auch erhält. Fürst Wilhelm wird daraufhin »eingeholländischt«: er lernt Niederländisch, erhält ein Exemplar der historisch bedeutenden ersten niederländischen Bibelübersetzung (Statenbijbel) und befasst sich intensiv mit Land und Leuten.
Das Paar lässt sich im Familienschloss in Neuwied nieder, wo zwischen 1872 und 1883 sechs Kinder geboren werden, von denen eines jedoch sehr jung stirbt. Marie, die großen Wert auf ihre königliche Abstammung und ihre dynastischen Rechte legt, hält sich mit ihrer Familie regelmäßig und für längere Zeit in den Niederlanden auf. Ihre Kinder, die Niederländisch sprechen und als halbe Oranier angesehen werden, sind denn auch recht beliebt im Land.
Ein Oranier muss es sein
1879 war der niederländische Thronfolger Prinz Wilhelm, genannt Wiwill, gestorben. Wilhelm zu Wied beschreibt die Verzweiflung, die seinen 82-jährigen Schwiegervater Friedrich deshalb heimsuchte: »Wir sind tief erschüttert und blicken zugleich mit großer Sorge nach Den Haag, nach dem Eindruck, den dieses furchtbare Ereignis auf meinen lieben Schwiegervater machen wird – das ist eine schwere Last in seinem Alter!« Leider ist Wiwills Bruder Alexander, der neue Thronfolger, für das Königsamt kaum geeignet. Erhöhen sich hierdurch für Maries Söhne die Chancen auf den niederländischen Thron? Prinzessin Marie sieht noch eine weitere interessante dynastische Möglichkeit: eine Hochzeit von Königin Wilhelmina mit Maries Sohn Wilhelm. Doch dafür kann sich weder Wilhelmina selbst noch ihre Mutter Emma erwärmen – Wilhelms Abstammung ist für eine Königin der Niederlande schlicht indiskutabel.
Nach dem Tod ihres Vaters erbt Marie das Niederländische Palais in Berlin und die Standesherrschaft Muskau, die sie verkauft, sowie das 500 ha große Landgut De Horsten in Wassenaar. Dieses veräußert sie an Königin Wilhelmina, die das naturreiche Areal mit verschiedenen Landhäusern und Bauernhöfen gern behalten möchte. Die Oranier erfreuen sich bis heute daran, denn nicht nur König Willem-Alexander und Königin Máxima wohnen dort bis auf weiteres (in Huize Eikenhorst), sondern auch einige Verwandte von ihnen, so dass man schon fast von einer Oranier-Enklave sprechen kann.
Die Thronfolge wird letztlich anders geregelt als von denen zu Wied gehofft. 1909, nach dem Tod Maries, erblickt endlich wieder ein Oranier, genauer gesagt eine Oranierin, das Licht der Welt: Prinzessin Juliana. Zu dem Zeitpunkt ist bereits klar, dass die Niederländer keinen fremden Fürsten auf ihrem Thron sehen möchten – entweder ein Oranier oder keiner. Und so wird 1922 die Thronfolgeregelung offiziell auf Nachkommen von Königin Wilhelmina beschränkt. Ausländische Prätendenten sind von nun an ausgeschlossen. Juliana selbst wird für so viele Nachfahren sorgen, dass die Zukunft der Dynastie gesichert ist.
Reinildis van Ditzhuyzen, Januar 2018
Literatur
- Ditzhuyzen
- René Cleverens: De Oranje-erfopvolging rond de eeuwwisseling. Troonpretendenten en huwelijkskandidaten 1898–1909 (Die Oranier-Erbfolge um die Jahrhundertwende. Thronanwärter und Heiratskandidaten 1898–1909), Middelburg 1997
- Cees Fasseur: Wilhelmina. De jonge koningin (Wilhelmina. Die junge Königin), Amsterdam 1998
- Mieke van Leeuwen-Canneman: Marie van Oranje-Nassau (Marie von Oranien-Nassau), in: Digitaal Vrouwenlexicon van Nederland (Digitales Frauenlexikon der Niederlande) http://resources.huygens.knaw.nl/vrouwenlexicon/lemmata/data/MarievanOranjeNassau
- Anton van de Sande: Prins Frederik der Nederlanden 1797–1881. Gentleman naast de troon (Prinz Friedrich der Niederlande 1797–1881. Gentleman neben dem Thron), Nimwegen 2015

Schloss Neuwied um 1860.

Wilhelm und Marie zu Wied mit ihren drei Söhnen und zwei Töchtern um 1890.